P. Klaus Mertes SJ – Statement auf dem ÖKT in München, 14.5.2010
1. Opfer und Institution
Zum Missbrauch gehören zwei Aspekte: Die Missbrauchstat im engeren Sinne sowie die unangemessene Reaktion der Institution, in welcher der Missbrauch geschieht. Dieser zweite Aspekt schmerzt viele Opfer heute noch, oft noch mehr als der erste Aspekt des Missbrauchs. Die Betroffenen melden sich ja bei der Institution (in meinem Fall: beim Canisius-Kolleg), nicht bei den Tätern. Viele wollen mit den eigentlichen Tätern gar nichts mehr zu tun haben. Aber sie wollen ihr Verhältnis zur Institution klären, vielleicht sogar versöhnen. In dieser Situation muss die angesprochene Institution die Grundentscheidung treffen darüber, wie sie den Opfern gegenübertreten will. Die Opfer wollen mit Vertretern der Institution sprechen, in der sie missbraucht wurden. Also treten ich ihnen als solcher entgegen. Ich gehöre in meiner Eigenschaft als Jesuit, Priester und Schulrektor zur Institution und distanziere mich nicht von der Institution, gerade auch nicht in der Begegnung mit den Opfern. Ich täte den Opfern keinen Dienst, wenn ich mich mit ihnen gegen die Institution solidarisieren würde. Die Opfer brauchen jemanden, der ihnen bestätigt: Ja ihr seid bei mir an der richtigen Adresse, um Eure Geschichte zu erzählen, euren Zorn zu zeigen, anzuklagen und Forderungen zu stellen.
Alle Versuche, die Institution ihrerseits als Opfer der Täter oder gar als Opfer der Opfermeldungen zu präsentieren, gehen deswegen daneben. In gewisser Weise sind solche Umdeutungen der eigenen Ausgangsposition sogar eine Fortsetzung des Missbrauchs. Die Opferperspektive einzunehmen bedeutet, für sich selbst als Vertreter der Institution zu klären: Wir sind nicht die Opfer, sondern die Opfer sind die Opfer.
2. Opfer im Konflikt mit der Institution
Auf dem Symposion der Jesuiten in der Osterwoche haben wir lange miteinander darüber gesprochen, was es heißt, als Kirche oder als Orden ganz konkret die Opferperspektive einzunehmen, oder anders gesagt: Der Perspektive der Opfer Vorrang zu geben vor den Image-Interessen der Institution. Der Vorrang der Opferperspektive ist vom Evangelium her ganz klar. Doch es ist so schwer, diese Perspektive wirklich einzunehmen. Ein Mitbruder berichtete in einer Gesprächsgruppe, wie schwer es ihm gefallen sei, zu entdecken, dass er entgegen aller Rhetorik doch faktisch so stark in der Institutionsperspektive gefangen war, dass er Wochen brauchte, um zu begreifen, was der Wechsel zu Opferperspektive wirklich bedeutet. Sie führt nämlich meistens in einen Konflikt.
Ein besonders schwieriger Prozess für uns Jesuiten war die Auseinandersetzung mit dem offenen Brief eine Opfergruppe an uns. Der Ton war hart, aggressiv, anklagend, fordernd, und, wie viele von uns fanden, uns gegenüber ungerecht. Es ist leicht, bei der Opferperspektive zu bleiben, so lange die Opfer bloß passiv Opfer sind. Aber Opfer sind mehr als nur Opfer. Sie haben eine Geschichte des Überlebens, einen Überlebenskampf hinter sich, oder kämpfen ihn noch, manchmal jahrzehntelang nach dem Missbrauch. Das Einnehmen der Opferperspektive kann nicht an die Bedingung geknüpft werden, dass die Opfer nett und freundlich sind und der Institution Konflikte ersparen.
3. Geistliche Vollmacht und Missbrauch
Mit der Weihe ist eine geistliche Vollmacht gegeben, die Papst Benedikt in diesem Jahr des Priesters besonders herausgearbeitet hat durch den Hinweis auf den Pfarrer von Ars. Es gibt eine besondere priesterliche Vollmacht auf Grund der Weihe. Ich glaube daran. Sie gehört zum Wesen der Kirche dazu.
Die Opfer, über die wir sprechen, werden im Rahmen eines Machtgefälles zu Opfern; das Kind wird von den Eltern missbraucht, der Schüler vom Lehrer, der Patient vom Arzt. Das Ganze geschieht in einer für das Opfer unausweichlichen Vertrauensbeziehung. Beim Priester kommt der Missbrauch der geistlichen Vollmacht hinzu. Auch die Beziehung zum geistlichen Amt ist unausweichlich für diejenigen, die Christus in der Eucharistie, in der Absolution, aber auch als Hirten und Lehrer begegnen wollen. Wenn der, der in persona Christi handelt, missbraucht, dann wird der Zugang zu Christus, zum Glauben an Christus beschädigt, wenn nicht sogar zerstört. Das ist ein ungeheuerlicher Vorgang. Die Frage nach der geistlichen Macht in der Kirche und ihren Strukturen ist eine Frage von allgemeinem kirchlichen Interesse. Auf den Klerus bezogen: Was bedeutet uns Klerikern Macht? Reflektieren wir überhaupt angemessen, dass wir sie haben? Was bedeutet uns Macht für unsere eigenen Beziehungs- und Anerkennungsbedürfnisse? Wo können wir sie mehr teilen? Wo können wir in der Kirche Empfangende sein. Wie kommunizieren wir mit Nicht-Klerikern? Wie konfrontieren wir Klerikalismus, der ja nicht nur eine Eigenschaft von Klerikern ist?
Die Frage nach der Macht ist nicht nur eine Frage des persönlichen geistlichen Lebens. Der Sinn für Institution gehört nach meiner Auffassung zum Katholischen hinzu. Gerade deswegen ist es ganz katholisch, die Frage nach den Machtstrukturen in der katholischen Kirche zu stellen. Machtmissbrauch muss auch strukturell vorgebeugt werden. Mit großen Sorge verfolge ich die Auflösung der Unterschieds von Amt und Person nicht nur, aber auch in der katholischen Kirche. Wo Kritik immer schon Majestätsbeleidigung und ein offenes Wort immer schon als Nestbeschmutzung gilt, da rieche ich die Anfälligkeit für Machtmissbrauch.