Prävention gegen sexualisierte Gewalt – Kritische Überlegungen und Grundsätze
P. Klaus Mertes SJ
Regensburg, Katholikentag, 30. Mai 2014
1. Sprache schafft Schutz. Das öffentliche Sprechen der Opfer hat auch für Kinder und Jugendliche Sprache geschaffen.
- Wahre Geschichte: Ein Mann fängt einen Jungen am Schulausgang ab. Er spendiert ihm ein Eis, nimmt ihn mit zu sich nach Hause, macht den Rollladen zu und Computer an, er beginnt mit Computerspielen und surft dann auf eine pornographische Seite. Da sagt der Junge: „Das ist jetzt sexueller Missbrauch.“ Darauf kriegt der Mann einen Schrecken, macht den Rollladen wieder auf und komplimentiert den Jungen aus seiner Wohnung heraus.
2. Prävention sexualisierter Gewalt in Institutionen setzt im Fall der Fälle die Aufklärung sexualisierter Gewalt in denselben Institutionen voraus.
- Es gibt verallgermeinerbare Standards von Prävention in Institutionen (transparentes Beschwerdemanagement, Fortbildungsmaßnahmen, Kooperation mit Fachstellen, unabhängige Ombudsstellen, Selbstverpflichtungserklärungen, Nähe-Distanz-Standards, erweitertes Führungszeugnis, etc.),
- aber die Schwerpunktsetzung der Prävention entscheidet sich in der konkreten Institution an den Besonderheiten der Kontexte, in denen sexualisierte Gewalt stattfand bzw. gedeckt wurde (Beispiel: In der Reformpädagogik steht das „Familiensystem“ unter Präventionsrücksichten zur Debatte, in katholischen Institutionen stehen hierarchische Systeme unter Präventionsrücksicht in Frage).
3. Prävention sexualisierter Gewalt dient nicht nur der Verhinderung von sexualisierter Gewalt im engeren Sinne, sondern auch der Prävention von Unaufmerksamkeit, Blindheit oder Verharmlosung entsprechender Symptome und Vorgänge in der Institution.
- Die Einstiegsfrage an alle Erwachsenen in der Institution lautet nicht: „Wie kann ich verhindern, ein Täter zu sein?“, sondern: „Wie kann ich verhindern, ein Weggucker zu sein?“
- Für das Aufbrechen von Blindheit gegenüber Gewalt hilft die Ausgangsfrage: „Welche Gewalt sehe ich?“ Denn sehend für die Gewalt, die ich nicht sehe, werde ich nur, wenn ich auf die Gewalt reagiere, die ich sehe. Gerade deswegen ist auch wichtig, bei der Frage nach der Prävention sexualisierter Gewalt den Blick nicht auf das Thema der sexualisierten Gewalt allein zu fixieren.
- Prävention sexualisierter Gewalt gehört (auch deswegen) in ein Gesamtkonzept von Gewaltprävention, besser noch in ein Curriculum des sozialen Lernens.
4. Prävention sexualisierter Gewalt ist strukturelle Prävention und betrifft:
- Transparente Entscheidungsstrukturen.
- Sicherung von Vertrauensräumen.
- Auflösung von rechtsfreien Räumen („black-box“)
Dazu gehört auch: Strukturelle Überforderungen abbauen, z.B. durch:
- Einbindung unabhängiger Stellen in das Beschwerdemanagement.
- Kooperation mit Fachstellen.
- Finanzielle/personelle Investitionen.
5. Prävention sexualisierter Gewalt rührt an das Selbstverständnis der Institution/des Systems. Im Falle der katholischen Kirche sind unter Präventionsrücksicht folgende gesamtkirchliche Themen betroffen.
- Das Sakrosankte kirchlicher Autorität und kirchlicher Traditionen.
- Der theologische Status des Weihepriestertums und der Umgang mit geistlicher Macht.
- Sprachlosigkeit bzw. mangelnde Sprachfähigkeit (strukturell bedingte Selbstgefährdungsprobleme im Falle des offenen Sprechens in kirchlichen Arbeitsverhältnissen, im Klerus, in Familien).
- Schuld- und Schamdruck im Zusammenhang mit Themen der Sexualmoral bzw. der Sexualpädagogik.
- Männerbündigkeit des Klerus.
Man kann die hier angesprochenen Fragestellungen auch abwehren, indem man unterstellt, die Frage nach der Prävention würde für eine kirchenpolitische Agenda instrumentalisiert. Aber man kann aus der Tatsache, dass sich unter Präventionsrücksicht Fragen an das Selbstverständnis und die Strukturen eines Systems stellen, nicht schließen, dass hier eigentlich „Kirchenpolitik“ gemacht wird. Es geht in der Tat um Prävention.
6. Prävention in der katholischen Kirche ist eine spirituelle Aufgabe.
Einübung in das Hören: Stärkung der Sensibilität für die Stimme der Opfer kirchlichen Machtmissbrauchs in der Kirche, da die „Stimme der Opfer“ oder klassisch ausgedrückt: Die „Stimme der Armen“ in der Kirche ein locus theologicus kirchlicher Selbsterkenntnis ist.